2.10.2021 Tag 199 Die Geburtsstätte des “Lübecker Modells”
Bereits um 5.40 breche ich im Licht meiner Stirnlampe auf. Erst eine Stunde später wird es langsam hell. Teilweise geht es über schöne Feldwege, eine nette Abwechslung vom häufigen Asphalt. Zwischendurch regnet es ein wenig, aber nicht allzu lange. Irgendwann erreiche ich dann den Schattiner Zuschlag, 43 Hektar 120-220 jähriger Laubwald, die seit 1946 nicht mehr bewirtschaftet werden und heute dem Stadtforstamt Lübeck als Referenzfläche dienen, doch dazu gleich mehr…
Zunächst freue ich mich sehr, mal wieder in einen richtig schönen, sehr naturnah wirkenden Wald gelangt zu sein.
Es handelt sich hier pflanzensoziologisch um Waldmeister- Buchenwald, der auf nährstoffreichen Standorten wächst.
Am vereinbarten Treffpunkt warten Knut Sturm, seit 2010 Leiter des Stadtforstamts und „mein“ Filmteam.
Ich bin sehr gespannt, da das „Lübecker Modell“, das es bereits seit 1994 gibt, als naturnächstes Waldwirtschaftsverfahren in Deutschland gilt, und von Naturschutzverbänden wie Greenpeace und dem BUND favorisiert wird.
Kern dieses Konzepts ist die starke Orientierung an natürlichen Abläufen. Dazu wurden 10 % der Betriebsfläche als Referenzflächen ausgewiesen, von denen der Schattiner Zuschlag lediglich eine ist. Die Größte umfasst immerhin 185 Hektar!
Etwas später stößt noch Yvonne Bohr, von der Naturwaldakademie zu uns.
Sehr interessant ist, dass es der gesamte Betrieb mittlerweile zum vierten Mal in einem Stichprobenverfahren, dass wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, akribisch durchleuchtet wurde. Man geht hier wie vielerorts sonst nicht von Annahmen aus, sondern von zahlenbasierten Fakten!
Auch Fichtenbestände wurden in die Referenzflächen integriert. Hier zeigten sich selbst in den Trockenjahren 2018 und 2019 nur kleine Borkenkäferschäden, die nicht an Umfang zunahmen, was dazu führte, dass auch im Wirtschaftswald keine „Borkenkäferbekämpfung“ durchgeführt wurde. Nach Schweizer Untersuchungen ist die Ursache hierfür, dass man bei Bekämpfungsmaßnahmen häufig in erster Linie die Feinde der Borkenkäfer trifft, Räumungen daher regelrecht kontraproduktiv sein können.
In einem 120- jährigen Buchenbestand stellt Knut Sturm klar, dass es normal ist, dass es in diesem Alter in der Buche kaum Totholz gibt, was bei der Eiche ganz anders aussieht. Daher gibt es hier keine pauschalen Totholzziele mehr, sondern man will im Wirtschaftswald 80 % der Totholzmenge einer vergleichbaren, unbewirtschafteten Referenzfläche erreichen. Im Lübecker Modell versucht man so wenig wie möglich in natürliche Abläufe einzugreifen und will dennoch wirtschaftliche Ziele erreichen. So stellte sich heraus, dass auf diesen Standorten Durchforstungen in der Buche nur bis zu einem mittleren Durchmesser von etwa 35 Zentimeter sinnvoll sind. Daher werden nach überschreiten dieses Werts auch keine Maßnahmen mehr durchgeführt, bis die Zielstärke erreicht wird. Diese beginnt bei der Buche erst bei 75 Zentimetern was sehr viel ist im Vergleich zu anderen Betrieben, die sich auf 60 Zentimeter beschränken. Allerdings soll der Durchmesser von 85 Zentimetern nicht wesentlich überschritten werden, da sich danach Verfärbungen und Fäulen häufen. Aber selbstverständlich wird auch im Wirtschaftswald etwa 10 Bäumen pro Hektar erlaubt, ihr natürliches Alter zu erreichen.
Interessanterweise ist bei der Buche die Gesamtwuchsleistung in unbewirtschafteten Beständen etwas 10-15 % höher, was laut Sturm wahrscheinlich an den ungestörten Wurzelnetzen liegt, mit denen sich die Nachbarn unterstützen und auch daran, dass die Bäume im Dichtstand weniger fruktifizieren und dafür dann auch weniger Energie benötigen.
Bei der Eiche existiert dieses Phänomen offenbar nicht, und Durchforstungen können auch in höheren Durchmesserbereichen einen Effekt bewirken, der allerdings nicht sehr stark ist.
Knut Sturm hält die Menge des Holzes pro Hektar, den sogenannten Vorrat, für eine der wichtigsten Kenngrößen einer naturnahen Bewirtschaftung. Dieser liegt im Schnitt in Deutschland bei etwa 300 Kubikmetern, im Lübecker Wirtschaftswald bei 470 Kubikmetern und im Schattiner Zuschlag gar bei 700, zuzüglich 90 Kubikmetern Totholz. Wie ich hier schon oft geschrieben hatte, spielt der Vorrat auch eine entscheidende Rolle bei der Kohlendioxidspeicherung des Waldes. Diese könnte nach Berechnungen von Sturm in 40 Jahren in Deutschland verdoppelt werden, wenn weniger Holz genutzt würde!
In Lübeck ist das Ziel vor allem die Erzeugung von Wertholz, mit möglichst wenig Masse möglichst hohe Erträge zu erzielen, ist das hier praktizierte Modell. Wie schon in den neunziger Jahren bei der Zertifizierung ist auch heute wieder Lübeck der Vorreiter wenn es um das Erschließen neuer Geschäftsfelder abseits des Holzverkaufs geht. So wird die Zusammenarbeit mit Firmen die ihren ökologischen Fußabdruck verringern wollen, immer wichtiger. Ich hatte mich im Vorfeld gewundert, dass der Stadtwald profitabel ist, trotz hohem Personalbestand von 16 Waldarbeitern und 6 Förstern. Hierzu muss man wissen, dass Lübeck einen eigenen Holzhof betreibt und auch fast alle Rückearbeiten in Eigenregie durchführt. Harvester arbeiten hier überhaupt nicht. Der Mindestrückegassenabstand beträgt zur Zeit noch 40 Meter, soll aber auf 80 Meter erweitert werden. Lediglich 40 % der Einnahmen entstehen durch den Holzverkauf, in Zukunft vielleicht nur noch 20%. So ist auch die Durchführung von Wiedervernässungen ein wichtiges Geschäftsfeld.
Das Thema Jagd spielt eine wichtige Rolle. Auch dabei geht der Stadtwald einen anderen Weg als vielerorts. So geht es hier darum den Jagdruck durch ständige Präsenz zu erhöhen um so einen Vergrämungseffekt zu erzielen. Dazu sind nicht große Drückjagden das Mittel der Wahl, sondern häufige, gemeinschaftliche Ansitze mit wenigen Schützen und ohne viele Hunde und Treiber.
Die Zeit vergeht wie im Flug, aber Knut Sturm hat nachmittags noch einen wichtigen Termin und ich will mir noch das Lauerholz anschauen, mit 600 Hektar Größe der Kern des Stadtwaldes. Dazu lege ich die verbleibenden 12 Kilometer lediglich in 100 Minuten zurück, was nur funktioniert, da Yvonne Bohr meinen Rucksack mitnimmt.
Am Holzhof Wesloe stoßen Yvonne Bohrs Kolleginnen Loretta Leinen und Eva Blaise zu uns. Die Naturwaldakademie existiert seit 2016 und will vor allem die naturnahe Forstwirtschaft auf faktenbasierte Füße stellen. Ein dringend notwendiges, löbliches Unterfangen!
Außerdem treffen wir hier Eckhard Kroppla, einen der Lübecker Revierleiter, der uns führt.
Das Lauerholz wird von alten Eichenbeständen geprägt, die nach 1850 größtenteils auf ehemaligen landwirtschaftlichen Flächen begründet wurden. Sehr auffällig ist das fast völlige Fehlen von Rückegassen. In Nadelholzbeständen wurden einige kleine Hordengatter gebaut, in denen man auf Naturverjüngung der Eiche hofft, oder die durch Bürgerprojekte bepflanzt werden. In älteren Weisergattern gibt es fast keine Eichennaturverjüngung. Das ist für den Betrieb allerdings kein Problem, da die Eiche bei Neuaufforstungen stark berücksichtigt wird und sich auch üppig in die Kiefernbestände verjüngt, wie ich es ja auch schon andernorts gesehen hatte.
Wieder vergeht die Zeit viel zu schnell und Yvonne fährt mich schließlich zum Bahnhof, wo ich erfahre, dass mein eigentlicher Zug ausfällt, ich mich dann aber noch in einen um über eine Stunde verspäteten Zug quetsche. Ich würde meinen Anschlusszug in Bad Kleinen nicht erreichen, aber Martina Scheller, vom NDR mit der ich ja gestern gedreht hatte, holt mich freundlicherweise ab und wir erreichen das Funkhaus gerade noch rechtzeitig um mich in der Maske verschönern zu lassen.
Schließlich wird der Film den wir gestern gedreht haben gezeigt und anschließend unterhält sich Moderator Thilo Tautz etwa fünf Minuten lang mit mir.
Anschließend fährt mich Frau Scheller zu einem Hotel am Bahnhof, wo ich noch bis Mitternacht mit Schreiben beschäftigt bin. Ein spannender, anstrengender Tag geht langsam zu Ende.
Ich bin Waldbauer und lebe in dem Zwiespalt, dass wir aus dem Wald (50 Ha) einen Teil unseres Lebensunterhaltes verdienen müssen, aber der Natur möglichst viel Spielraum lassen möchten. Dazu habe ich z. B. eine Jagd, wo ein Teil unseres Waldes liegt, gepachtet. Weil es aus meiner Sicht von der staatlichen Beratung kaum Praxis-Versuchsflächen gibt, oder sie uns nicht gezeigt werden, habe ich seit 40 Jahren eigene, ~1000 m² große Versuche angelegt, die ich laufend verfolge, pflege und daraus lerne. Unser bisheriger Wald war sehr fichtenlastig. Wegen der Borkenkäferschäden werden wir in nächster Zeit 80% umgebaut haben. Die aktuelle Aufgabe ist, unsere 4 Ha große Kahlfläche wieder zu bewalden. Die Einnahmen aus unserem Wald sind noch zu 99% aus dem Holzverkauf. Wir haben z. B. in einem kleinen Stück einen Bogenschützenpark. Wir liegen am Rand einer 70 000 Einwohnerstadt im wohlhabenden weiteren Einzugsbereich von München. Welche Möglichkeiten gibt es, Zukunft zu schaffen. Vielen Dank für jede Unterstützung. F. Attenkofer
Natürlich lässt sich so etwas aus der Ferne nicht beantworten. Aber ich denke, gerade im ballungsraumnahen Bereich gibt es viele potenzielle Möglichkeiten, von Baumpatenschaften über Friedwald zu Kooperationen mit Firmen, die ihren Kohlendioxidausstoß kompensieren wollen.