29.10.2021 Tag 226 Naturnahe Waldwirtschaft im Göttinger Stadtwald
Mit der Daunenjacke im Schlafquilt ist die frostig- klare Nacht gut erträglich, obwohl es außerhalb des Waldes leicht gefroren hat. Um 9 Uhr treffe ich mich mit Lena Dzeia, seit 2018 Leiterin des Stadtforstamts und stellvertretende Leiterin des städtischen Bauhofs, mit 140 Mitarbeitern. Der Förster Henrik Müller fährt uns in die Nähe des Aussichtturmes, den ich ja schon gestern passiert habe. Von dort wandern Lena und ich dann bei schönem Herbstwetter los. Am liebsten würde ich zur Fällung markierte Bestände sehen oder Flächen auf denen gerade Holz geerntet wurde. Zu meiner Überraschung gibt es die aber nicht. Seit 2019 wird kein regulärer Holzeinschlag mehr durchgeführt, sondern lediglich Verkehrssicherungsmaßnahmen an den Wegen! Zwar hat es dürrebedingt hier auch geschädigte und abgestorbene Buchen gegeben, aber in relativ geringem Umfang. Die Aussetzung des Holzeinschlags ist also eine reine Vorsichtsmaßnahme, um den Laubwald durch Auflichtungen nicht empfindlicher zu machen. Das ist meiner Meinung nach eine sehr gute und konsequente Maßnahme, da ich ja überall beobachtet habe, dass aufgelichtete Buchenbestände stärker geschädigt sind. Die Gremien der Stadt haben tatsächlich für 5 Jahre ein komplettes Einschlagmoratorium erlassen!
Bereits seit 1995, als das Lübecker Modell eingeführt wurde, wurde der Einschlag um die Hälfte reduziert, was zu dem sichtbaren Vorratsaufbau geführt hat. Nichts desto trotz soll die Holzernte in Zukunft sogar bis auf ein Drittel des Zuwachses reduziert werden. Grund dafür ist, dass es nur relativ wenig Bäume gibt, die bereits eine wirtschaftlich sinnvolle Zielstärke erreicht haben. Es wäre aus langfristiger Sicht absolut kontraproduktiv, würde man solche „Ferkel schlachten“, daher ist es sinnvoll auch bei den stärkeren Bäumen den Vorrat weiter aufzubauen. Im Gegensatz beispielsweise zu Lübeck und Uelzen gibt es hier fast keine Nadelbaumbestände, die das ausgleichen könnten. Die Situation, das die Bestände insgesamt noch zu jung und schwach für eine Zielstärkennutzung sind, ist übrigens sehr häufig. Normalerweise wird allerdings nicht mit der in Göttingen geplanten Einschlagssenkung operiert, sondern das Holz viel zu jung und schwach geschlagen. So kann man natürlich kurzfristig gute Zahlen produzieren, aber der langfristigen Waldentwicklung, auch ökonomisch, ist das sehr abträglich.
Lena wird übrigens dann und wann auf Veranstaltungen von Kollegen kritisiert, dass sie der Stadt schaden würde, in dem sie das wertvolle Holz vergammeln lässt. Wer so argumentiert, sieht den Wald nicht als Ökosystem in dem auch Totholz sehr wertvoll ist, davon abgesehen, ist das auf Göttingen bezogen, wie oben ausgeführt, totaler Quatsch. Bei solcher Kritik sind Mitarbeiter von Staatsforstbetrieben meist ganz vorne dabei, dabei vergessen diese leicht, dass deren von Gerichten bestätigter, öffentlicher Auftrag, vor allem in der Wahrung der vielfältigen Leistungen des Waldes, außerhalb der Holzproduktion liegt.
Gegen 11 erreichen wir das Wildgehege des Stadtwaldes, wo Lena einen Medientermin mit Göttiger Tageblatt, HNA und Radio Leinewelle organisiert hat.
Anschließend unterhalten wir uns noch ein wenig, bevor ich dann meinen Weg nach Göttingen fortsetze, wo heute meine Freundin Anke zu mir stößt, die dann den Rest des Weges bis Marburg mitlaufen möchte.
Der Göttinger Stadtwald ist ein Beispiel dafür, wie nachhaltig hohe Wertschöpfung und der Schutz der Naturgüter Boden, Wasser, Luft, Tiere, Pflanzen und deren ökosystemarer Wechselwirkungen in Wäldern dauerhaft erbracht werden können.